So schnell habe ich schon sehr lange kein Sachbuch mehr gelesen. Ich hatte bei Keine Regeln einen Aha-Moment nach dem anderen: Wie sie bei Netflix die Talentdichte erhöhen UND trotzdem dafür sorgen, dass die Leute sich nicht gegenseitig als Konkurrenz sehen. Die krass offene Feedback-Kultur. Die Führung durch Kontext statt Kontrolle. Das Setzen von Wetten auf Projekte, an die man glaubt. Der Keeper-Test (interessant: So negativ, wie in der Deutschen Blogosphäre empfinde ich den Keeper-Test überhaupt nicht. Denn auch die Mitarbeiter können den Keeper-Test jederzeit auslösen, der Keeper-Test geht also nicht immer nur von den Vorgesetzten aus. Zudem gibt es bei Netflix keine jährliche Quote an Leuten, die entlassen werden muss wie z. B. früher bei General Electric (GE), wo jedes Jahr die untersten 10 % gefeuert wurden. Das Beispiel GE wird irgendwie in jedem Blogartikel genannt, in dem über „Keine Regeln“ geschrieben wird. Ich finde, GE lässt sich in dieser Hinsicht mit Netflix nicht wirklich vergleichen). Ich finde das alles faszinierend! Was für eine offene, schnelle und… andere Unternehmenskultur!

Beispiele vom Gegenteil, von verschwiegenen, unangenehmen und trägen Unternehmenskulturen, sind mir in den letzten 15 Jahren schon viele begegnet:

  • Oben habe ich das Beispiel GE genannt. Und ich kannte tatsächlich mal jemanden, die dort gearbeitet hat. Die Tatsache, dass dort jedes Jahr die „schlechtesten“ 10 % entlassen wurden, hat nicht gerade für gute Stimmung gesorgt – selbst bei Leuten, die in den top 20 % waren.
  • Später habe ich von Freunden gehört, dass sie in ihrem Job Boni bekommen, deren Höhe von verschiedenen Arten der Zielerreichung abhing. Das fanden sie alle blöd, denn sie hatten oft wenig oder keinen Einfluss auf alle diese Arten der Zielerreichung. Jedes Jahr wurde auf dieses Zielerreichungsgespräch hingebibbert. Je höher der maximal mögliche Anteil der Boni am Einkommen war, umso unzufriedener waren die Leute. Witzig, dass Boni ja eigentlich als Motivation eingeführt wurden – aber genau das Gegenteil bewirkten. Ich wusste schon damals: NIEMALS werde ich für ein Unternehmen arbeiten, das mit Boni arbeitet.
  • Oft wurden Ideen stärker beklatscht, wenn sie von einer höheren Hierarchie-Ebene kamen – egal, wie gut oder schlecht diese Ideen waren. Natürlich wurden sie auch weniger kritisiert. Das galt irgendwann auch für meine eigenen Ideen, was ich mehr als irritierend fand 😂 🙈
  • Als angestellte Texterin fand ich mit am schlimmsten: Die detaillierte Zeiterfassung. Hier eine Headline für Kunde A geschrieben, da an einer Powerpoint für Kunde B gearbeitet – das alles musste fein säuberlich erfasst werden. Schon damals habe ich argumentiert, dass eine gute Idee nicht nach Aufwand und Zeit bemessen werden kann. Dieses Mikromanagement hat mich echt gekillt. Zudem hört die kreative Arbeit nicht pünktlich zum Feierabend auf: Ideen, Fragen und Probleme kreisen uns ja ständig im Kopf herum und ein kreativer Geistesblitz kommt uns dann vielleicht am Wochenende beim Duschen. Was die Zeiterfassungs-Software wohl dazu sagen würde? 😄
  • Ich wurde mal echt uncool entlassen. Anstatt mit uns über die Schwierigkeiten des Unternehmens zu reden, haben die Chefs bis zum allerletzten Moment gewartet, um allen die unfrohe Kunde mitzuteilen: Tadaaa, ihr seid entlassen. Über die Art und Weise war ich damals geradezu schockiert. Auch heute kann ich darüber nur den Kopf schütteln.

Ich habe früher oft gedacht: Ich bin wohl nicht aus Chefinnen-Holz geschnitzt, weil ich nicht so uncool mit Menschen umgehen will. Dieses Denken hat mich sehr lange begleitet. Heute weiß ich: Das ist ein Mindfuck. Aber klar, wenn wir in einer Kultur leben, in der Führung ständig so rüberkommt: verschwiegen, hart, hierarchisch, kontrollierend, einengend – da braucht es echt viel Phantasie, sich auch einen anderen Führungsstil vorzustellen.

Alle Punkte, über die ich mich damals als Ang(st)gestellte geärgert habe und die mir Bauchschmerzen bereitet haben, macht Netflix anders. Jeder dieser Punkte wurde in „Keine Regeln“ thematisiert – und so viele mehr! Ich habe dieses Buch aufgesogen!

Einen großen Aha-Moment hatte ich auf S. 99. Im Vorfeld ging es darum, wie man das Micromanagement der Mitarbeiter auflösen und wie man Genehmigungsverfahren für Reisespesen und Ausgaben aufbrechen kann. Durch Versuch und Irrtum haben sie bei Netflix eine Art Ehren… äh Spesenkodex entwickelt:

„Handle im besten Interesse von Netflix.“

Beim Lesen des Buchs wird klar: Dieser Satz gilt nicht nur für die Spesenabrechnung. Er gilt für alle Unternehmensbereiche. Das Ausmaß an Freiheit, auch in den kleinsten Ästen des Hierarchie-Baums im Interesse von Netflix zu handeln, finde ich beeindruckend. Leute in der niedrigsten Hierarchiestufe geben bei Netflix Serien mit Millionenbudgets in Auftrag.

So etwas wäre in deutschen Werbeagenturen uuuundenkbar. Ein „kleiner“ Projektmanager, der eine millionenschwere Kampagne in Auftrag gibt? Das ist doch Chefsache! Trotz New Work und agilem Arbeiten sind die meisten Werbeagenturen tief im Kern sehr hierarchisch. Und trotzdem, ich habe die Arbeit in den Agenturen geliebt – als Angestellte wie als Freelancerin! Nur das Drumherum war oft nicht das Richtige für mich. Heute kann ich dieses Drumherum selbst gestalten. Ein Drumherum, das meinem Charakter als introvertierte Scannerpersönlichkeit gerecht wird – garantiert ohne Zeiterfassung 😄

Für ein Unternehmen à la Netflix haben wir hier in Deutschland wahrscheinlich nicht die passende Mentalität. Denn bei einem Thema habe ich mich im Buch sehr ertappt gefühlt: Netflix sieht sich nicht als Familie. Ich meine, wie oft habe ich das schon gehört? So nach dem Motto: Wir bei {Unternehmen XY} sind eine Familie! Wir halten zusammen und gehen gemeinsam durch dick und dünn. Ich selbst habe solche Texte als Freelancerin für meine Kunden auch schon geschrieben. Und, boah, habe ich mich das eine Mal, als ich frisch im Online-Business war, schwer damit getan, jemandem die Zusammenarbeit zu kündigen. Hätte ich damals das Wort dafür gehabt, hätte ich gewusst: diese Person hat den Keeper-Test nicht bestanden. Stattdessen: Familie.

Wirklich, ein faszinierendes Buch.