{Diesen Text habe ich am 1. Juni 2025 auf Substack veröffentlicht. Damals hatte ich noch keine offizielle ADHS-Diagnose. Ich habe gespürt, dass ich über dieses Thema schreiben wollte: Selbständigkeit und Online-Business mit ADHS. Aber ich dachte mir: Ich kann doch nicht über ADHS schreiben, ohne eine offizielle Diagnose zu haben! Deshalb habe ich diesen Text damals halb-anonym auf Substack veröffentlicht – also nicht auf meinem Blog.}

Ich bin von allem ein bisschen, nichts richtig und dann auch noch das Gegenteil. Das war der erste Satz, mit dem ich mich Anfang der Nullerjahre auf einer deutschen Community-Plattform vorgestellt habe. Schon damals war mir bewusst, dass ich irgendwie anders bin, hatte damals aber keine schlauen Worte dafür. Alle fanden das immer mega kreativ und lustig. Ich glaube, denen war gar nicht bewusst, wie ernst ich das meinte.

Während alle anderen um mich herum immer sehr genau gewusst haben, was sie mal werden wollen, wenn sie groß sind oder welche Charaktereigenschaften sie haben, habe ich mich gefragt: Bin ich dies oder jenes? Bin ich ehrgeizig – oder bin ich es nicht? Bin ich ordentlich oder chaotisch? Bin ich ängstlich oder ein Abenteurer? Bin ich denn nun intelligent oder der verpeilteste Mensch auf Erden? Ja, hmm… keine Ahnung, kommt drauf an!

Ich kam mir immer schon wie ein Alien vor. Bei Star Trek Deep Space 9 gibt es den Charakter Odo, einen Formwandler. So kam ich mir auch immer vor. Ich passe mich immer schnell an jede Stimmung an. Meine Spirit Animals waren immer schon Data und Seven of Nine. Heute weiß ich: Diese zwei Star-Trek-Charaktere sind neurodivergent. Aber gut, in den 90ern hatte ich noch nicht die Weisheit des Internets in meiner Hosentasche, um das zu wissen.

Also habe ich mich also auf die Suche gemacht, warum ich anders war. Mein erster Verdacht, mit Anfang 20: Vielleicht bin ich ja hochintelligent? Ich habe den Test bei Mensa gemacht und bin knapp an der IQ-Grenze von 130 gescheitert. Dann habe ich mir gedacht: Na gut, das war’s wohl nicht.

Dann dachte ich, ich bin introvertiert. Als ich einen Meyers-Briggs-Test gemacht habe, kam INTP heraus. Die Beschreibung hat so einigermaßen gepasst, es war zumindest das beste Label, das ich damals gefunden habe, um mich zu erklären. Und dann kam erst mal lange nichts mehr in dieser Hinsicht, meine Selbsterforschung hat stagniert. Hat ja alles ganz gut funktioniert, in meinem Leben. Die Ausbildungen (mit Betonung auf die Mehrzahl, ich konnte mich so schlecht entscheiden, was ich studieren soll) liefen super. Durch ein paar Fächer habe ich mich durchgequält, aber zum Glück hatte ich damals in meiner Studentenwohnung kein Internet (das waren noch andere Zeiten). Also gab es keine Ablenkung. Mein internetfreies Studentendasein, gepaart mit den Deadlines eines Studiums, hat dazu geführt, dass ich zur Höchstform aufgelaufen bin. Zack, Studium 1 und 3 mit Auszeichnung abgeschlossen.

Aber dann kam das Arbeitsleben: Ich war als Angestellte die maximale Vollkatastrophe. Sobald ich die Tür zu meinem Job aufgemacht habe, war ich ein anderer Mensch. Alles hat mich genervt: Das Telefon nebenan, die doofen Meetings und selbst das Mitarbeitergespräch, das doch erst in 3 Monaten war, saß mir schon im Nacken. Und wehe, jemand lief an meinem Arbeitsplatz vorbei und wollte einen Blick auf meinen Bildschirm werfen! Ich habe jede Idee zergrübelt und wenn ich etwas präsentieren musste, war ich ungewohnt schlecht. Zum Glück kam dann 2008 die Wirtschaftskrise, weshalb das Unternehmen, bei dem ich damals angestellt war, pleite ging. Und ich dann so: Hmm… ich glaube, ich mache mich selbständig!

Beste Entscheidung, ever!

Lag mir als (vermeintlich) introvertierte Person viel besser! Endlich niemand mehr, der mich überwacht hat! Endlich keine Großraumbüros mehr! Endlich konnte ich arbeiten, wann es für mich gut war: also frühmorgens oder nachts. Aber gut, perfekt war das trotzdem nicht: Obwohl ich als Selbständige mit meiner Arbeit zig Awards gewonnen habe, war da immer dieses Gefühl: Beim nächsten Projekt werde ich versagen. Ich habe nie versagt, aber dieses, wie ich später herausfinden sollte, “Imposter Syndrom” genannte Gefühl, hat mich ständig begleitet. Aber gut, irgendwie ging das dann trotzdem mehrere Jahre einigermaßen gut.

Dann wurde ich zum ersten Mal Mutter und mein Leben ist explodiert. Dieses Stimmungs-Auf und -Ab, diese maximale Verpeiltheit und zugleich lichten Momente der Genialität, diese geradezu manische Umsetzungsfreude und der Crash am nächsten Tag, dass ich tausend Projekte anfange und meine Wohnung einem Hobby-Friedhof gleicht, die Chaos-Schneise, die ich überall ziehe, wo ich entlanggehe. Aber dann von außen gespiegelt bekommen, wie organisiert und strukturiert ich doch sei! Und ich nur so: ICH?? Irgendwann habe ich mich gefragt: Ist es vielleicht eine bipolare Störung? Aber mein Umfeld und ein Ex-Freund haben mir versichert, dass ich das ga-ran-tiert nicht habe. Na gut, das ist es wohl auch nicht.

Und dann habe ich mein drittes Kind bekommen. Ein Kind, das mir in der ersten Sekunde gezeigt hat: Ich bin du! Nicht nur, dass es mir wie aus dem Gesicht geschnitten ist, es ist auch eine 1:1-Kopie meines Temperaments. Als dieses Kind dann beim Fußball ein Jahr aussetzen musste, weil es zu verträumt war, als die Schwimmtrainerin mir gesagt hat, dass mit diesem Kind etwas nicht stimmt (da bin ich nie wieder hingegangen), als es die erste Klasse wiederholen musste, habe ich mir also meine Gedanken gemacht. Fun Fact: Bei meinem Kind hatte ich schnell den Verdacht, dass es ADHS haben könnte. Aber bei mir selbst? NIEMALS! Und das, obwohl mir dieses Kind so unfassbar ähnlich war! Ich habe diesen Gedanken jahrelang sehr konsequent weggedrückt. Dass ICH eine Krankheit, Störung oder gar Behinderung haben könnte? UNMÖGLICH! Ich bin doch viel zu erfolgreich, viel zu sportlich, viel zu dies, viel zu jenes – aber ADHS? Auf gar keinen Fall! Ein krasser blinder Fleck.

Und dann kam der Sommer 2024: Ich habe auf Instagram schon einigen Leuten mit Neurodivergenz-Themen gefolgt, aber es hat sich immer so … nicht 100 % passend angefühlt. Denn oft war das Bild, das ich gesehen habe, eines, mit dem ich mich nicht ganz identifizieren konnte. Da waren z. B. die Hochsensiblen, aber dieses Label hat sich für mich sofort disqualifiziert (ich kann gar nicht genau sagen, warum. Vielleicht hat es was mit dem Label der Gabe zu tun, ich meine Schwierigkeiten aber nie so positiv gesehen habe, sondern eher als Bürde. Und mein Gerechtigkeitssinn hat immer verhindert, dass ich mich als “etwas Besseres” labele, was Hochsensibilität für mich irgendwie ist. Sorry, ja, vielleicht ist das auch wieder ein blinder Fleck). Autismus habe ich wegen meiner Vorurteile als sehr negativ wahrgenommen, so nach dem Motto: Die reden nicht oder sind sonstwie sehr stark im Alltag eingeschränkt – was ICH ja nicht bin, nur ein klitzekleines bisschen. Und ADHS, das waren immer die hochgradig verpeilten – und so krass verpeilt bin ICH ja nicht.

Aber dann bin ich bei Instagram über dieses Reel von Guardian of Mind gestolpert. Und ich habe sofort gewusst: Oh SHIT, ich habe AHDS!

Als ich mich mit den Symptomen beschäftigt habe, wusste ich: Ich bin das Poster-Girl des ADHS! Zeitblindheit? Check! Impulsivität? Check! Krasse Kreativität, aber oft Anlaufschwierigkeiten, ein Projekt zu starten? Doppel-Check! Ich hake die ganze Liste ab, mit Fleiß-Sternchen! Aber Moment mal: wenn mich ein Thema interessiert, dann habe ich plötzlich gar keine Schwierigkeiten mehr: Dann tauche ich in das Thema ein und wenn ich mich 3 Tage später vom Computer losschäle, bin ich eine Expertin für das jeweilige Thema. Ah, dieses Phänomen heißt “Hyperfokus”? Gut zu wissen!

Kurz darauf hatte ich die Erkenntnis: Moment, vielleicht ist es ja eine Mischung? ADHS plus Autismus plus keine Ahnung was?

Und dann wurde es wild.

Ich habe zig Bücher gekauft und verschlungen. Immer auf der Suche nach der Antwort auf die Frage: Wer bin ich und warum bin ich so anders?

Und jetzt stehe ich heute hier und frage mich, ob man das, was ich habe und was ich bin, überhaupt benennen, geschweige denn diagnostizieren kann. Ich habe mein Leben ganz gut im Griff, aber es fühlt sich ständig an, als ob es mir entgleitet. Selbstzweifel und absolut bescheuerte Ängste, wie z. B. an der Käsetheke um etwas bitten: Kenne ich! Zugleich auf der Bühne stehen oder Live-Videos machen: Kein Problem (also: je nach Tagesform)! Aber: Ein Leidensdruck wird mir abgesprochen, weil ich viel zu erfolgreich bin. Ja, ich habe es probiert, eine Diagnose zu bekommen, aber der Therapeut hat mir in den ersten 3 Minuten unserer ersten Session abgesprochen, dass ich ADHS haben könnte, weil ich alle meine Ausbildungen erfolgreich abgeschlossen habe. Danke fürs Gespräch! Nach 4 Sessions habe ich die Therapie abgebrochen, u. a. weil ich ständig das Gefühl hatte, dass er mir nicht glaubt. Und sobald ich etwas beweisen muss, ist bei mir Schicht im Schacht.

Ich frage mich: ist das alles tatsächlich ein Problem oder bin ich nur ein Chaot, der halt einfach nur lernen muss, sich noch besser zu organisieren? Ein paar mehr Ikea-Boxen kaufen und das ganze Zeug wegsortieren? Den Dachboden und Keller entrümpeln? Die Ämter anrufen und die To-Dos einfach abarbeiten? Andere schaffen das ja schließlich auch. Bin ich einfach nur seltsam und resultieren alle meine Probleme einfach nur aus der Tatsache, dass ich ein maximal verpeilter Mensch bin, der langsam müde davon wird, alle Probleme mit Perfektion zu erschlagen, weil sonst alles in einer Super-Chaos-Nova explodiert?

Und vor allem: Darf ich über all das, über ADHS und meine Ängste, über meine komischen Gedanken und Selbstzweifel schreiben, auch wenn ich keine offizielle Diagnose habe? Hat man ADHS nur dann “richtig”, wenn es offiziell bestätigt ist? Und ist, bis es so weit ist, alles nur ein diffuser Möglichkeiten-Nebel, der natürlich auch die Möglichkeit beinhaltet, dass ich einfach nur faul und verpeilt bin?

Mein Imposter lässt grüßen!

{Heute habe ich die offizielle ADHS-Diagnose. Ich habe sie genau 5 Monate nach meinem 45. Geburtstag bekommen. Was für ein unglaublich befreiender Moment! So ziemlich genau in der Mitte meines Lebens wird mir plötzlich alles klar! Endlich habe ich eine Erklärung für so viele Dinge! Endlich kann ich bessere Lösungen finden und nicht mehr nur an den Symptomen herumwursteln. Und auch wenn ich mich noch nicht ganz bereit dazu fühle, weiß ich doch: Die Zeit ist reif dafür, darüber zu schreiben.}