Vor 24 Stunden war ich auf meinem ersten Elternabend.
Vor 25 Stunden ahnte ich noch nichts von meinem Glück.
Gestern um 19:52 Uhr schwinge ich mich spontan und nichtsahnend auf mein Elektrofahrrad in Richtung unserer lokalen Grundschule. Eigentlich war das nicht mein Termin, aber ein Blick zu wenig auf den Terminkalender und schwupps, hatte ich einen unverhofften Abendtermin. Ich komme gerade pünktlich, man will ja nicht sofort einen schlechten Eindruck machen. Ich setze mich in die vorletzte Reihe der mittlereile fast vollen Cafeteria. Keine Ahnung, was jetzt kommen würde, ich war null gebrieft – aber ich sollte nicht enttäuscht werden…
Ich schaue mich um. Das ist also die Grundschule, in die meine Tochter ab September gehen wird. Ich kenne diese Grundschule bisher nur von zwei Bundestagswahlen. In bunt geschmückten Grundschulklassenzimmern durfte ich hier bisher zwei Mal meine Stimme abgeben. Irgendwie hatte ich immer die Vorstellung, dass meine Kinder in die gleiche Grundschule gehen würden, in der ich selbst war, in Stuttgart Heumaden. Aber die Quadratmeterpreise für Wohnungen waren ein PLZ-Gebiet weiter einfach günstiger. Ich sehe vor mir mehrere Reihen voller Eltern. Eine ganz bunte Mischung und eine erstaunlich hohe Väterquote. Es wird getuschelt und gekichert, einige Eltern werfen mahnende Blicke in die Runde. Ich frage mich, wie sich meine Eltern Mitte der 1980er Jahre gefühlt haben müssen, als sie echte Exoten auf dem Elternabend waren: Ausländer. Im Jahr 2018 tippt der Vater links von mir chinesische Schriftzeichen in sein Handy, rechts von mir sitzen ein dunkelhäutiger Mann und eine Frau mit Kopftuch und hinter mir ist eine Flüchtlingsfamilie. Es hat sich viel verändert…
Powerpoint-Folien fliegen an die Wand, das Highlight namens Förderverein bring die müde Elternschaft zum Lachen, mir schwirrt der Kopf vor Terminen, AGs, Sportangeboten und Mittagessensoptionen (das war früher bei uns nicht so kompliziert, aber hey, damals war Ganztagsschule kein Fremdwort, sondern ein Fremderwort), ich habe Durst und es ist ultra warm, die Luft steht. Und dann haben wir plötzlich den Höhepunkt des Abends erreicht: die Klassenzuteilung. Ich wusste nicht mal, dass das heute Abend stattfinden würde. Während ich noch meine Gedanken sortiere und mir der Rücken von den unbequemen Stühlen eingeschlafen ist (das hatte ich schon lange nicht mehr, ein Hoch auf Holzstühle!) werden in der schwülen Cafeteria Kindernamen in alphabetischer Reihenfolge aufgerufen und bunte Umschläge verteilt. Zuerst die grünen Umschläge, die Klasse 1 a. Ich merke: hier spielen sich kleine und große Dramen ab. Ungefähr beim Buchstaben K fliegen High Fives durch die Luft und als alle grünen Umschläge verteilt sind, gratulieren sich einige Eltern und diverse Hände werden freudig geschüttelt. Eine der drei besten Freundinnen meines Mädchens ist in der a-Klasse. Langsam verstehe ich das Drama…
Es folgt die Klasse 1 b, lilafarbene Umschläge. Als ich nach den ersten paar Namen keinen aus unserem Kindergarten höre, freunde ich mich mit dem Gedanken an, dass auch meine Tochter ein C-Klassen-Kind wird, wie ich damals. Ich werde jäh aus meinen Gedanken gerissen, als in der Mitte des Alphabets doch noch der Name meiner Tochter fällt. In Gedanken gehe ich schnell das Alphabet durch, stehen ihre anderen beiden besten Freundinnen alphabetisch hinter ihr? Der Schnellcheck ergibt: ja. Mein Puls steigt. Und ich muss zum Glück nicht lange warten, bis ich die beiden Namen höre. Puh… Das große Drama ist abgewendet. Die eine Mutter und ich schauen uns wissend an, ein Händeschütteln ist nicht nötig. Ich atme erleichtert auf und sinke in meinen Holzstuhl. Der Showdown in der Cafeteria kann ohne uns weitergehen.
Das Gefühl, dass hier Weichen für das ganze Leben meiner Tochter gestellt werden, ist überwältigend. Nur weiß ich nicht, in welche Richtung diese Weichen gestellt werden. Was ich von anderen Eltern höre, sind Sätze wie z.B.: „Der erste Klassenlehrer entscheidet über deine ganze Schulkarriere“. Ich sitze auf dem unbequemen Holzstuhl und frage mich, wie mein Leben verlaufen wäre, wenn es mich in Stuttgart Heumaden auch in die b-Klasse verschlagen hätte. Ich hätte ganz andere Lehrer und Freunde gehabt, das hätte mein ganzes Leben verändert – nur wie? Wäre ich heute vielleicht keine Werbetexterin, sondern… etwas ganz anderes? Ich habe ja mit zig Berufen geliebäugelt, von Medizin bis irgendwas mit Sport, Kunst und Biologie. Würde ich heute überhaupt in Stuttgart wohnen? Wenn alles andere in meiner Kindheit gleich geblieben wäre, ich aber in der gleichen Schule nur eine andere Schulklasse besucht hätte, welchen Unterschied hätte das gemacht?
Mit dem mulmigen Gefühl, dass hier gerade die Zukunft meines Kindes ihren Lauf nimmt, schwinge ich mich in der Dämmerung auf mein Fahrrad. Als ich das Eingangstor der Schule erreiche, kommt mir der Gedanke, dass es vielleicht nicht so cool war, mit dem Fahrrad über den Schulhof zu fahren. Das war schon damals bei uns verboten, in den 80ern.