Ich setze mich hin und will meinen Monatsrückblick schreiben aber es geht nicht. Meine Gedanken kreisen. Vor 10 Tagen wurde der Afroamerikaner George Floyd bei einem Polizeieinsatz getötet. Das hat in den USA landesweite Proteste ausgelöst – aber diesmal ist es anders. Es ist Corona- und Wahljahr in den USA und jemand hat ein Video davon gemacht, wie er qualvoll getötet wurde. Ich bin diesem Video bewusst aus dem Weg gegangen, denn so etwas belastet mich noch Wochen später. Es ist wie mit dem Bild von Alan Kurdi, dem ertrunkenen syrischen Kind, das an der türkischen Küste angeschwemmt wurde: Ich muss da sofort weinen. Ich sehe die Proteste und verfolge, was in den USA passiert. Ich lese die Postings meiner Host Mum aus den USA und ich sehe ihre Wut und Empörung. Host Mum? Ich habe eine sehr persönliche Verbindung zu den USA denn ich war 1996/1997 ein Schuljahr im US-Bundesstaat Colorado. Damals war Bill Clinton Präsident – was waren das für andere Zeiten! Meine Host Family war hispanischer Abstammung und obwohl ich dort in meiner Zeit kein einziges Mal eine meiner Gastfamilie gegenüber rassistische Erfahrung gemacht habe, weiß ich doch, dass sie diesbezüglich schon die wildesten Sachen erlebt haben. Ich habe das Gefühl, dass ich mich zum Thema Rassismus nicht äußern darf, weil ich als hellhäutige Europäerin nicht weiß, wie sich Rassismus anfühlt. Einerseits bin ich der Meinung, dass jeder vernünftige und empathische Mensch Anti-Rassist sein sollte, genau so wie er z. B. ein Feminist und Anti-Faschist sein sollte. Andererseits frage ich mich selbst, wie rassistisch ich womöglich selbst bin. Wenn ich ganz tief in mir grabe, kann ich dann wirklich behaupten, dass ich die Menschen gleich behandle, unabhängig von ihrer Hautfarbe? Meine Antwort ist kompliziert. Denn es geht nicht nur um Hautfarbe, sondern auch um das Geschlecht, Alter, Klasse und andere Dinge.
So kam es also, dass ich die ganzen letzten Tage die Proteste und Nachrichten rund um George Floyd verfolgt und dabei immer versucht habe, das Video zu vermeiden. Eine Art klinisch saubere Auseinandersetzung mit dem Thema Rassismus. Ich habe den Spiegel-Kommentar von Arno Frank gelesen, in dem er schreibt: „Werden Geschäfte geplündert, kippt der politische Protest unweigerlich – und verliert seine moralische Berechtigung.“ und wollte instinktiv sofort widersprechen. Ich halte es eher mit Margarete Stokowski, die schreibt: „Muss dann auch die Französische Revolution für ungültig erklärt werden, weil da auch dies und das passierte? Noch mal zurück, noch mal gesittet von vorne?“ Mir fallen in der Rassismus-Diskussion Argumentationsmuster auf, die mir schon als Feministin häufig aufgefallen sind, allen voran das sogenannte „Tone Argument„: Tone Policing ist eine Ad-Hominem- und Anti-Debatten-Taktik, die darauf basiert, eine Person dafür zu kritisieren, dass sie Emotionen ausdrückt. Tone Policing stellt die ganze Aussage infrage, indem sie den Ton angreift, in dem sie präsentiert wurde, und nicht den Inhalt an sich. Eine Frau hysterisch zu nennen weil sie bei der Verteidigung der Frauenquote emotional wird, hat eine gewisse Ähnlichkeit mit der Kritik an den aktuellen Aufständen in den USA dafür, dass dabei ja Eigentum von unschuldigen Menschen zerstört wird: Es ist ein Machtinstrument, das Menschen, die aufbegehren, verstummen lassen soll. Menschen, die diese Diskriminierung nie erfahren haben, verstehen nicht die Wut, die sich da aufbaut und Menschen, die diskriminiert werden, werden nun einmal wütend. Wie praktisch, so denken sich dann viele Privilegierte, dass man diese Menschen dafür dann ganz easy abkanzeln und damit ihr Argument auf magische Weise in Luft auflösen kann.
In diesem ganzen Strudel an Gedanken, Empörung und Nachrichten, die sich überschlagen und an Bildern mit Endzeitstimmungs-Look aus den US-Metropolen flüchte ich zu Reddit und scrolle mich durch das Eyebleach-Subreddit. Und dort sehe ich dieses Bild:
Und ich fange an zu weinen. Ich bin nicht schwarz – aber ich bin Mutter. Meine eigenen Kinder sind schon tausendmal so auf meinem Schoß eingeschlafen wie auf diesem Bild. Und mir wird schlagartig bewusst, dass ich mich aus dieser Diskussion nicht heraushalten kann – weil ich ein Mensch bin. Plötzlich werden mir noch ganz andere Dinge klar: In meiner Selbstwahrnehmung bin ich eine Person mit extrem starkem Gerechtigkeitsempfinden – ich darf aber meine Energie nicht nur in die Geschlechtergerechtigkeit stecken. Denn die verschiedenen Formen der Diskriminierung sind miteinander verwoben und nicht sauber voneinander getrennt: Rassismus, Sexismus, Klassismus usw. sind keine unabhängigen Diskriminierungen, die man in einer Petrischale fein säuberlich untersuchen oder gar lösen kann. Sie sind auch deshalb miteinander verwoben, weil die stärkste Form der Diskriminierung oft von der gleichen Gruppe an Menschen ausgeht: dem weißen privilegierten Mann. Und dass die Diskriminierten ihre Diskriminierung nicht alleine auflösen können.
Mir wird auf einmal klar, was mich an der ganzen Erbauungs-Lyrik und an all den Motivationssprüchen stört, die mir auf Facebook, Instagram, Pinterest & Co. begegnen: Carpe Diem? Du musst nur an deine Träume glauben und hart arbeiten und dann wird schon alles? Die Welt liegt dir zu Füßen? Du hast schon alles in dir, was du für deinen Erfolg brauchst? Manifestiere deinen Erfolg? Ja, klar, gilt vielleicht für privilegierte Weiße aber nicht im gleichen Maße für Frauen wie für Männer oder für Schwarze wie für Weiße. Wie diese Sprüche für einen Großteil der Menschheit wohl klingen müssen…? Und dass, wenn jemand keinen Erfolg hat, das nicht an einem Mangel an Wissen oder Fleiß liegen muss. Ich meine, wie oft hat László Bewerbungen geschrieben und serienmäßig Absagen kassiert, obwohl er einen Abschluss von der Universität Hohenheim hat? Ich dachte mir, dass wir vielleicht einfach nur seine Bewerbung professioneller gestalten müssten, ein besseres Foto von ihm aufnehmen müssten usw. Ich konnte mir die ständigen Absagen einfach nicht erklären, denn wenn ich drei Bewerbungen schreibe, werde ich zu drei Vorstellungsgesprächen eingeladen. Aber selbst mir wurde irgendwann klar, was Laszlo mir schon von vornherein gesagt hat: Das Problem war sein komplizierter ungarischer Nachname, der ihn sofort als Ausländer zu erkennen gab. So einfach – und verletzend – kann manchmal die Erklärung sein. Wir werden es nie herausfinden, denn Unternehmen geben sich ja nicht die Blöße, zuzugeben, dass sie jemanden aufgrund seines Nachnamens aussortiert haben. Aber so ist das eben mit der Diskriminierung: sie tritt oft nicht offen auf, sondern legt den Diskriminierten mehr oder weniger latent Steine in den Weg. Und die Privilegierten sehen diese Steine oft nicht – erst wenn sie vehement und mit nicht zu leugnenden Beweisen darauf hingewiesen werden. Und das bin ich: privilegiert. Verdammt privilegiert. Deshalb ist bei mir per Default der blinde Fleck aktiviert. Wie praktisch und bequem!
Aber ich will es nicht bei meinem blinden Fleck belassen. Ich will endlich sehen und verstehen.