Seit Juni 2025 habe ich meine ADHS-Diagnose. Und ich frage mich: Hätte man das auch früher wissen können? Ich habe das Gefühl, dass ich ständig durchs Raster gefallen bin. Im Rückblick erscheint alles so klar: Natürlich habe ich ADHS, das war doch immer schon offensichtlich! Hier nun der Versuch, in Worte zu fassen, warum das so lange gedauert hat.

Die ersten ADHS-Anzeichen schon im Grundschul-Alter

Wenn du mich heute bei einer Challenge oder in einem Live erlebst, fällt dir wahrscheinlich als erstes auf: Ich rede sehr schnell. Das war schon immer so. In der Grundschule hat mein Sprechtempo manchmal zu, nun ja, Verständigungsproblemen geführt, weil meine Gesprächspartner (z. B. Lehrer) nur die Hälfte verstanden haben. Heute weiß ich: Ein ständig schnelles Sprechtempo kann ein Anzeichen für ADHS sein. Aber damals hieß es immer: Das läge daran, dass meine Muttersprache Ungarisch sei und die Ungarn reden halt so schnell.

Ein weiteres ADHS-Anzeichen, das mein Umfeld hätte aufhorchen lassen können: Beim Essen habe ich mich immer zu Tode gelangweilt, deshalb musste ich immer etwas lesen, wenn auch nur die Rückseite der Kaba-Packung. Und: Wenn ich mich aufgeregt habe, was ich leider ziemlich oft getan habe, weil ich sehr impulsiv war und meine Emotionen nicht gut kontrollieren konnte, hieß es wahlweise, ich sei hysterisch oder das sei die ungarische Puszta in meinem Blut.

In meiner Kindheit und Jugend sind Sätze gefallen, wie: „Deine Brüder sind ein bisschen hyperaktiv, aber du nicht, denn du bist ja ein Mädchen!“ Dass ich hypersportlich war, in der Schule nicht stillsitzen konnte (in den Pausen habe ich über Jahre hinweg Handstand-Training gemacht) und der Klassen-Clown war, ist bei dieser Betrachtung offensichtlich nicht berücksichtigt worden. Die Grundschule habe ich trotzdem sehr gut abgeschlossen – inklusive Empfehlung fürs Gymnasium.

ADHS im Gymnasium: mein 2. Vorname heißt „Underachiever“

Als ich im Gymnasium so schlecht in Französisch, Physik, Mathematik und Englisch war, dass ich über mehrere Jahre hinweg fast sitzengeblieben wäre, hieß es: Das Potential sei da, aber ich sei halt nur ein bisschen faul und hätte einfach kein Interesse. Als ich dann aber in meinem USA-Auslandsjahr in genau diesen Fächern brilliert habe, hieß es: Ja, das Schulsystem in den USA ist ja auch total schlecht, das ist überhaupt nicht vergleichbar mit unserem superduper Schulsystem in Deutschland! In den USA kann ja jeder Versager gut sein, die schmeißen einem die guten Noten hinterher! Die Schule dort war für mich einfach wahnsinnig interessant – im Gegensatz zum Einschlaf-Unterricht made in Germany. Ich erinnere mich noch an meinen US-Physiklehrer, der alles so unfassbar gut erklärt hat, dass ich es sofort verstanden habe! Beim Thema Optik haben wir uns z. B. in der ganzen Schule verteilt, jeder hatte einen Spiegel. Es ging dann darum, einen Laserstrahl in ein Ziel zu lenken, über x Ecken hinweg. Wie cool, SO lernt man „Einfallswinkel = Ausfallswinkel“!

In den USA war ich (seit der Grundschule) zum ersten Mal richtig gut in der Schule! Was für ein Gefühl! Wieder zurück in Deutschland kam dann aber die Ernüchterung: Ich kam in die 12. Klasse und musste meine Leistungskurse wählen. Aber leider konnte ich keines meiner Lieblingsfächer als Leistungskurs wählen: Weder Sport noch Kunst standen an meiner Schule zur Auswahl. Also muss ich Geschichte (urgs) und Englisch (nach dem High-School-Jahr war das einigermaßen ok) nehmen. Und jetzt war alles Abi-relevant, jede einzelne Note – was für ein Stress! Dummerweise war ich wieder gefangen im Einschlaf-Unterricht. Aber damals ist ein kleiner Gedanke in meinem Kopf gekeimt: Vielleicht bin ja nicht ich das Problem, sondern die Schule.

Die 90er: ADHS-Stigma und kein Internet

Rückblickend weiß ich noch: In den 90ern war ADHS oder, wie man es damals nannte, „Hyperaktivität“, sehr stigmatisiert und auch nicht so präsent, wie heute, wo auf Social Media oder in den Medien sehr viel und auch sehr wohlwollend über ADHS gesprochen wird. Es war eine ganz andere Zeit und ich konnte mich zu einem Thema auch nicht so informieren, wie heute: Wir hatten schließlich kein Internet! Es war als Teenager damals sehr schwierig, zufällig über Themen zu stolpern, wenn sie nicht gerade im Fernsehen behandelt wurden (Zeitung habe ich damals nicht gelesen). Heute muss man nur 5 Minuten durch Instagram scrollen, um ein Reel zum Thema ADHS zu sehen. Und: wenn die Worte fehlen, weiß man auch nicht, wonach man in der Bibliothek suchen muss. Die Information war vielleicht in Bücher-Form vorhanden, aber für mich schwer zu finden. Und wer weiß, vielleicht ist es auch gut, dass ich sie damals nicht gefunden habe. Denn: Damals ging die Forschung nicht besonders wertschätzend mit ADHS/Autismus um. Und es war der vorherrschende Konsens, dass nur Jungs hyperaktiv sind. Tja, wie soll man das als Mädchen interpretieren? Vielleicht: Du bist krass abnormal, kein richtiges Mädchen! Ein sehr unangenehmer Gedanke für ein Teenager-Mädchen.

Das rumänische Mindset: AD… hä, was?

Zu allem Überfluss komme ich aus Rumänien, wo mit einer Abweichung von der Norm oft kurzer Prozess gemacht wurde. In Rumänien wurde mir ein Mindset mitgegeben, das sehr verächtlich auf psychische Probleme blickt. So nach dem Motto: Solange dir kein Arm abgerissen wurde oder solange du nicht verhungerst, hast du gar kein richtiges Problem. Und: Der Anpassungsdruck, „normal“ zu sein, war enorm. Abnormal durfte man nur im positiven Sinne sein, also z. B. indem man extrem sportlich war. In einer negativen Form „nicht normal“ zu sein, musste unbedingt versteckt werden. Ich kann mich noch erinnern, dass meine Eltern in den 80er Jahren bei Familien-Treffen regelmäßig das Telefon und die Steckdosen mit Kissen abgedeckt haben. Denn sie hatten Angst, abgehört zu werden (Wanzen in Steckdosen waren damals „a real thing“). Mit ihrem Wunsch, aus Rumänien zu flüchten, waren sie „nicht normal“. Negativ über das Regime zu sprechen, konnte ein Todesurteil sein.

Es war ein ständiges Verstecken, Kaschieren, So-tun-als-ob. Die Folge: Masking (also das Verstecken der neurodivergenten Verhaltensweisen, um sich an die neurotypische Masse anzupassen und um akzeptiert zu werden) war in Rumänien nicht nur Anpassung, sondern wortwörtlich ein Überlebens-Mechanismus, den jeder anwenden musste. Natürlich habe ich das damals alles überhaupt nicht gewusst oder verstanden, ich war ja erst 6, als wir Rumänien verlassen haben. Aber ich habe gelernt: Ich muss verstecken, dass ich anders bin, denn sonst droht Gefahr. Also: Klassisches Masking. Und ich wurde sehr, sehr gut im Masking. Der Sozialismus wirkt in meinem Kopf immer noch nach.

Etwas, das ich erst in den 90ern erfahren sollte: Kinder wurden in Rumänien wegen allerlei Gründen in katastrophale Heime gesteckt. Diese Gründe dafür z. B. dass sie keine Eltern hatten oder wegen körperlichen Behinderungen. Aber z. B. auch wegen Entwicklungsverzögerungen, Verhaltensauffälligkeiten und geistigen Behinderungen. Heute nennt man vieles davon: ADHS bzw. Autismus. Aber: Weil man früher keine Worte für Autismus und ADHS hatte und es damals im rumänischen Gesundheitssystem Autismus und ADHS nicht als Diagnose gab, lief alles unter Verhaltensstörung, Behinderung oder „schwer erziehbar“. Gerade im Fall von Autismus gibt es viele Berichte von Auslandsadoptionen nach 1990, wo westliche Ärzte später feststellten: Dieses Kind hat nicht die schwere geistige Behinderung, die im rumänischen Heim diagnostiziert wurde – es ist einfach nur autistisch. Auch wenn ich davon nichts wusste: Meine Eltern und das erwachsene Umfeld haben es wahrscheinlich gewusst. Und das formt dann eben auch das Verstecken-Mindset, z. B. damit einem die nicht ganz durchschnittlichen Kinder nicht weggenommen werden.

ADHS im Erwachsenenalter: OMG, es wird alles so komplex!

Nach dem Abitur lief erst mal alles in geordneten Bahnen. Meine Ausbildungen (mit Betonung auf Mehrzahl. Relativ typisch für Menschen mit ADHS) und mein BWL-Studium habe ich sehr gut gemeistert, zwei von drei Ausbildungen habe ich mit Auszeichnung abgeschlossen (na, zum Glück hat man bei Grafik-Design weder Physik noch Französisch, juhu!). Aber schon da hat mein Alltag Risse bekommen: Ich war wie ein Flipper-Ball zwischen wahnsinniger Langeweilie und Überforderung. Und ich bin manchmal ziemlich angeeckt, obwohl ich überhaupt kein Dagegen-Typ bin – es passierte einfach immer irgendwie.

Ein Beispiel: Das Praktikum, bei dem ich meine BWL-Diplomarbeit geschrieben habe, habe ich begeistert angefangen – und nach wenigen Monaten vollkommen frustriert abgebrochen. Der Grund: Ich konnte die stupiden Tätigkeiten nicht ertragen. Zudem hat sich die Agentur nicht an unsere Abmachung gehalten, dass ich an 2 Werktagen an meiner Diplomarbeit arbeiten darf. Das hat dann so dermaßen gegen mein Gerechtigkeitsgefühl verstoßen, dass ich von dort flüchten musste (Gespräche haben leider nichts gebracht). War jetzt meine Diplomarbeit – und damit mein Abschluss und meine Zukunft – in Gefahr? Zum Glück habe ich mich bei meiner Diplomarbeit für ein „freies“ Thema entschieden! Das hieß: Ich konnte es auch ohne Unternehmen im Rücken schreiben. An meiner Hochschule war es Usus, dass man die Diplomarbeit zu einem Thema schreibt, das irgendwie ein Unternehmen betrifft bzw. eine Fragestellung eines Unternehmens beantwortet. Dass man eine Diplomarbeit alleine schreibt, war sehr unüblich. But hey, here I am again: Unabhängigkeit ist für mich kein Luxus, sondern essentiell notwendig für mein Überleben. Das war so ein typischer Judith-Move 😄

Mein Umfeld hat mir damals eine düstere Zukunft prophezeit, aber in einem Anflug von Scheiß-drauf-ismus habe ich einfach meinen Professor über das Agentur-Desaster informiert – und er hatte Verständnis. Er hat mir damals gesagt: Egal, Hauptsache, ich gebe eine gute Diplomarbeit ab. Gesagt, getan: Ich habe mich dann hingesetzt und eine unfassbar gute und unterhaltsame Diplomarbeit abgeliefert. Mein Professor hat mir für diese Diplomarbeit die erste glatte 1 in seiner Laufbahn vergeben. The Story of my Life: Ein ewiges Auf und Ab, das zwischen den Extremen oszilliert.

Festan(gst)stellung: Der ADHS-Horror!

Nach meiner Diplomarbeit habe ich angefangen, als Texterin in Werbeagenturen zu arbeiten. In 2 von 3 Agenturen wurde ich in der Probezeit gekündigt. Nicht aus persönlichen Gründen, sondern weil die Agenturen in finanzielle Schieflage geraten sind oder sogar pleite gingen und dann (fast) allen Angestellten gekündigt wurde. Es war die Zeit der Lehmann-Pleite, die dann nach Europa rübergeschwappt ist und im Jahr 2009 zu einem Agentursterben in Deutschland geführt hat. Denn: woran sparen Unternehmen in der Krise als erstes? Am Marketing! Aber ganz egal, was die Gründe für meine Kündigungen waren: Das war nicht gut für mein Ego. In einer der 3 Agenturen, bei denen ich angestellt war, wurde ich zur Festan(gst)gestellten, das war der absolute Agenturen-Horror. Großraumbüro-Geräuschpegel, ständig überwacht werden und auf den Bildschirm geglotzt bekommen, dem nächsten Mitarbeitergespräch entgegenzittern – das war furchtbar für mich. Das Imposter Syndrom und Wochenend-Bauchschmerzen waren meine ständigen Begleiter. Der Gedanke, dass ich am Montag wieder zur Arbeit muss, hat dazu geführt, dass ich das Wochenende gar nicht genießen konnte.

2009 habe ich beschlossen: Das tue ich mir nicht mehr an. Also habe ich mich selbständig gemacht – aus Notwehr! Das war eine meiner besten Entscheidungen, ever! Denn als Selbständige bzw. Freelancer konnte ich die Arbeit in Werbeagenturen viel besser tolerieren. Ich konnte ja jederzeit gehen, wenn es doof wurde. Ich musste keine zig Stunden absitzen, auch wenn es nichts zu tun gab. Ich konnte meine eigenen Geräte nutzen und musste nicht irgendwelche uralten Geräte nutzen, die erst mal 10 Minuten brauchen, um hochzufahren. Ich war frei von Flurfunk, Intrigen & Co. Es gab keine Mitarbeitergespräche und ich musste nicht um mein Gehalt verhandeln – ich habe einfach meinen Stundensatz genannt und fertig! Ich habe nicht mehr so viel für die kreative Mülltonne gearbeitet, wie damals als Angestellte. Und entscheidend war nur noch, was ich abgeliefert habe – ich musste als Nichtraucherin, Nicht-Tätowierte und Nicht-Haarefärberin nicht die wahnsinnig interessante, selbstbewusste, agentur’esque Person mit cräzy Hobbies mimen, damit die Leute meine Ideen beklatschen! Was für eine Erleichterung! Und: Endlich waren meine Wochenend-Bauchschmerzen verschwunden!

Kinder kriegen und Kinder haben: Der ADHS-Endgegner?

Ach, so entspannt hätte es gerne die nächsten Jahrzehnte weitergehen können! Aber 2011 kam mein erstes Kind auf die Welt. Und damit ist mein Leben ex-plo-diert. Das Hyper-Chaos im Kopf UND in der Wohnung, die Wäscheberge, die ersten zigfach verpassten Termine: All das kam so richtig dicke mit meiner Mutterschaft. Während ich in meinem Studium ein krasser Minimalist war mit nur ca. 100 Gegenständen in meiner Wohnung (ok, Klamotten ausgenommen), ist der Zeug-Berg plötzlich angewachsen, als mein erster Babybach gewachsen ist. Leute haben mir dies und jenes geschenkt und mir wurde gesagt, dass ich jetzt tausend Dinge benötigen würde: Kinderwagen, Windeleimer, Babybett – ein Zeug-Desaster! Das hat mich damals schon überfordert und zum Glück habe ich mir von all diesem Zeug genau NICHTS angeschafft. Stattdessen: Tragetücher, Stoffwindeln, ein Konzept namens „Windelfrei“ – und das Baby hat natürlich bei uns im Bett geschlafen. Aber, boah, wie stark die Komplexität ansteigt, sobald man ein Baby hat: episch! Mich hat das vollkommen fertiggemacht. Ich war als frischgebackene Mutter maximal gelangweilt, es war mir alles zu viel und gleichzeitig zu wenig. Eine krasse Mischung aus Unter- und Überforderung. Ein Bore-Burn-Out. Nur konnte ich das damals überhaupt nicht in Worte fassen und habe die Bücher „Ich will raus hier“ von Nataly Bleuel und „Regretting Motherhood“ von Orna Donath verschlungen. Ich habe mich gefragt: Regrette ich wirklich meine Motherhood? Ja, nein, vielleicht, ich weiß nicht. Ich wusste, DASS etwas in meinem Leben gehörig schiefläuft – aber ich wusste nicht WIESO!

Die unglückliche Over-Performerin: ADHS machts möglich!

Trotz allem war ich in dieser Zeit in allem so gut: Wenn ich zurückblicke, habe ich alle meine Schwierigkeiten mit Perfektion und manischer Arbeitswut kompensiert. In Kombination mit meiner Kreativität kamen in meiner Freelance-Arbeit selbst während meiner schwierigsten Zeit großartige Ergebnisse heraus: Strategien, bei denen ich out-of-the-Box gedacht habe und awardprämierte Werbekampagnen, wie z. B. dieses Ferrero-Projekt, das absolut JEDER in Deutschland kennt (ich habe mich aber immer awkward-prämiert gefühlt). Kann so eine erfolgreiche Person ein Problem haben?

Ich dachte ja jahrelang selbst: So jemand wie ich kann doch keine Schwierigkeiten haben, schau dir doch einfach meine vielen tollen Awards an!!1! Ich war nach außen das pralle Leben und die „Powerfrau“ (ich hasse dieses Wort), die neben dem sehr erfolgreichen Job auch noch zwei tolle Kinder wuppt! Dass ich mich aber ständig gefragt habe, warum ich das alles eigentlich mache, warum ich so unglücklich bin, warum ich ständig das Gefühl habe, das falsche Leben zu leben und warum ich so gelangweilt bin von einem Leben, das mich doch eigentlich glücklich machen sollte, denn schließlich hatte ich doch ALLES, was frau sich wünschen kann – das habe ich natürlich nicht nach außen gezeigt, ist ja klar. Ich habe ja als Kind gelernt, dass ich unter allen Umständen die Fassade der Normalität wahren muss, denn sonst droht Gefahr!

Life-Umkrempeling like a Pro!

Nachdem ich mich also jahrelang gefragt habe „warum geht es mir so schlecht?“ und „wie komme ich da raus?“ habe ich 2016 beschlossen: ICH ÄNDERE DAS JETZT! Ich war im 8. Monat mit dem 3. Kind schwanger, als ich mit meinem Ehemann eine Hauruck-Aktion gestartet habe. Damit habe ich mein Leben, meine Arbeit und meine Familie vollkommen umgekrempelt. Das war sehr mutig, sehr unkonventionell, sehr beängstigend. Aber dieses sehr ehrliche und sehr befreiende Gespräch an einem Vormittag im April 2016 sollte meinem (unserem!) Leben eine ganz neue Wendung geben.

Eine Folge dieses Life-Umkrempelings war: Der Grauschleier über meinem Leben hat sich langsam gelüftet. Von einem gefühlten 30%-Leben kam ich schrittweise auf ein 50 % Leben. im Januar 2018 habe ich dann mein Online-Business gestartet – und das sollte ALLES verändern! Ich habe damals gewusst: Ich muss ein Leben in kreativer Freiheit führen, sonst bin ich verloren! Nur: Wie genau dieses Leben in kreativer Freiheit aussehen sollte, wusste ich noch nicht. Die Freelance-Tätigkeit war für mich schon viel besser, als die Festan(gst)stellung. Aber das Imposter-Syndrom hat mich trotzdem bei jedem einzelnen Projekt gelähmt. Ich wusste also: Ich brauchte etwas anderes! Im Dezember 2017 hatte ich so ein Gefühl, dass ich wieder Facebook aufs Handy installieren sollte (ich war schlau genug, in den Jahren davor Facebook kaum zu nutzen und es nicht auf dem Handy zu haben). Und so bin ich dank einer Werbeanzeige über meine Business-Mentorin Sigrun gestolpert. Und dann gings los, ein abenteuerliches Achterbahn-Leben ganz nach meinem Geschmack, das mich (gepaart mit ein paar anderen Life-Umkremplings) endlich wieder in Richtung eines 100 % Lebens katapultiert hat! Am 1. Mai 2018 ist dann mein Mann Laszlo Teil dieses Abenteuers geworden, er hat damals seinen Job gekündigt und wir haben uns offiziell zu einem Familien-Unternehmen zusammengetan. Auch das war wieder eine sehr mutige, sehr unkonventionelle und beängstigende Entscheidung – die sich tausendfach lohnen sollte!

In meinem Online-Business habe ich mit meinen kreativen Projekten, wie meinem Abreißkalender, meinem Handstand-Kurs und meinen Blog-Challenges, wie „Boom Boom Blog“, „Blog your Purpose“ oder „Jahresrückblog“ schon tausende Menschen begeistert. Mit Siebenmeilenstiefeln haben wir ein erfolgreiches Online-Business aufgebaut. Ich habe mir mein Leben in kreativer Freiheit aufgebaut. Und trotzdem: Die Chaos-Berge, mein Imposter und meine diversen Ängste sind im Hintergrund weiter angewachsen. Sobald ich es mal gewagt habe, darüber zu reden, wie schon 2019 in meinem Blogartikel „Geständnis of a Sympatexter: Ich habe eine Mindset-Behinderung“ musste ich mir sofort anhören: Ich würde ja maßlos übertreiben, denn ALLE hätten doch mal Versagensängste! Und solange ich nicht z. B. im Rollstuhl sitze, habe ich ja gar kein echtes Problem und darf das Wort „Behinderung“ nicht benutzen, das sei respektlos gegenüber Menschen, die wirklich behindert seien!

Dann habe ich mich natürlich selbst gefragt: Kann so eine kreative und erfolgreiche Person, wie ich, echte Herausforderungen haben?

Mein Umfeld ist ADHS-blind

Ich glaube, dass genau dieser Widerspruch zur ADHS-Blindheit in meinem Umfeld geführt hat: Ich kann doch kein Problem haben, wenn ich so erfolgreich bin! Das Ergebnis: Egal, welche Anzeichen es gab, irgendjemand hatte im Laufe meines Lebens immer eine sehr gute Erklärung für meine Probleme, die eben nicht ADHS hieß: Du bist halt introvertiert! Die Hormone sind schuld! Du musst dich einfach nur besser organisieren! Oder, mein Lieblingsspruch: Du musst an deiner Einstellung arbeiten!

Und so habe ich es dann selbst irgendwann geglaubt: Dass ich einfach nur ein bisschen verpeilt und faul bin (heute denke ich mir: ICH?? FAUL??). Dass ich ein Motivationsproblem habe und einfach nur noch mehr arbeiten muss! Dass ich mir das alles nur einbilde und eigentlich gar kein echtes Problem habe. Dass ich einen besseren Kalender oder Ordner kaufen muss, denn damit lösen sich meine Probleme auf wundersame Weise!

Dabei waren die ADHS-Anzeichen unübersehbar. In meinem Umfeld wollte oder konnte man sie nicht richtig interpretieren, so nach dem Motto: ADHS haben doch nur Jungs! Oder: ADHS haben nur die anderen!

Eine unheilvolle Mischung, die meine ADHS-Diagnose stark verzögert hat

Heute glaube ich: Dieser kulturelle Background, das ADHS-Stigma in den 90ern und die Tatsache, dass ich eine Frau bin, waren eine unheilvolle Mischung. Aber das ist nicht alles. Denn ich hatte auch meinen eigenen Anteil daran, dass ich erst so spät Klarheit bekommen habe: Ich hatte einen sehr großen, blinden Fleck. Ich konnte mir jahrelang nicht eingestehen, dass ich tatsächlich, auf eine negative Art und Weise anders sein könnte.

Ich wusste lange, dass ich irgendwie anders war. Aber doch ganz bestimmt nicht krank, behindert oder gestört! Nein, das hat mein Selbstbild nicht zugelassen! Heute weiß ich, dass sich das „Ableismus“ nennt: unterschiedliche Diskriminierungsformen gegenüber Menschen mit Behinderung. Ich habe ADHS und Autismus immer als so negativ, als so krank, gestört und assi empfunden, dass ich nicht mal den Gedanken zu Ende denken konnte, dass ich das womöglich auch haben konnte.

Aber vor sehr genau einem Jahr kam dann der Moment der brutalen Erkenntnis. Ich habe mich damals gefragt: Was genau bin ich eigentlich? Eine Scanner-Persönlichkeit? Einfach nur empfindlich und verpeilt? Huch… äh hochintelligent? Oder vielleicht sogar hochsensibel, obwohl ich diesen Begriff sehr problematisch fand, ohne genau sagen zu können, warum eigentlich? Und dann bin ich bei Instagram über dieses Reel von Guardian of Mind aka. ADHS-Expertin Katharina Schön gestolpert:

Und ich habe sofort gewusst: Oh SHIT, ich habe AHDS!

Dieser Aha-Moment der Selbsterkenntnis hat eine unglaubliche Entwicklung losgetreten. Ich habe zig Bücher zu den Themen ADHS und Autismus gekauft und, ja, sogar gelesen! Ich bin mit Warp 5 in das Hyperfokus-Wurmloch reingeflogen und habe so ungefähr alles aufgesaugt, was es zu diesem Thema gibt. Ich habe den Versuch einer ersten Diagnose gemacht und dann wieder abgebrochen. Im 2. Anlauf hat es dann geklappt. Ich habe so viele gute Gespräche geführt und zig Gespräche wieder innerlich verlassen, als es mal wieder hieß: „Heute hat ja jeder ADHS“. Ich habe ADHS-Kurse gekauft und diszipliniert (weil: interessiert) durchgeklickt. Ich kriege immer noch regelmäßig Muskelkater vom Augenrollen, wenn selbst ein Arzt mir sagt, dass er noch nie von ADHS bei Frauen gehört hätte. Ich meine: WIE ist das möglich, wenn seit 2024 jeder größere Verlag, wie Spiegel Online und Süddeutsche Zeitung zig Artikel über „Frauen und ADHS“ veröffentlicht?

Heute weiß ich, dass die ADHS-Blindheit in meinem Umfeld der Grund war, warum ich das alles alleine und mit so großer Verzögerung herausfinden musste. Klar, dass in meinem Umfeld niemand auf die Idee kam, mir einen ADHS-Verdacht mitzuteilen, denn ADHS, das haben ja immer nur die anderen! Ich versuche heute, es besser zu machen: Ich informiere mich sehr intensiv und sehe meine ADHS-Diagnose als Work in Progress an, als neuen Startpunkt für meine Suche. Es gibt so viel, das ich noch nicht weiß! Den Menschen, die mir wichtig sind und bei denen ich einen sehr begründeten ADHS-Verdacht habe, teile ich meinen Verdacht sehr diplomatisch und dezent unter 4 Augen mit. Das hat schon zu einigen offiziellen ADHS-Diagnosen in meinem Umfeld geführt (gleich und gleich gesellt sich gern). Vielleicht schenke ich ihnen somit eine Abkürzung, die ich selbst gerne gehabt hätte. Ja, ich finde es schade, dass ich erst mit Mitte 40 eine (erste) Antwort auf meine großen Lebensfragen gefunden habe. Aber hey, auch wenn ich manchmal wütend bin, warum das alles so lange gedauert hat und auch wenn mir manchmal die Tränen kommen, dass ich so viele unnötige Schwierigkeiten hatte und so viel Lebenszeit verloren habe, weiß ich: Lieber spät, als nie. Zum Glück weiß ich es jetzt. Jetzt, da meine eigenen Kinder noch klein sind. Jetzt kann ich noch ALLES in meinem Leben in bessere Bahnen lenken. Und ich kann mit meinem konsequenten Life-Umkrempeling meinen Kindern ein gutes Vorbild sein.