Manchmal bekomme ich Kommentare oder Nachrichten, die etwa so lauten: „Jetzt wird plötzlich jeder Coach! Und dann will keiner mehr Brot backen oder etwas „Sinnvolles“ tun! Wohin soll das alles nur führen??“ Ich finde diese Empörung sehr interessant, denn: die Beobachtung, dass sich plötzlich „alle“ auf ein Thema stürzen, ist nicht neu. Und: Sie sagt mehr über dich aus, als über dein Umfeld.
Coaches gab es schon immer! Nur hießen sie früher anders.
Sobald wir unser Wissen und unsere Erfahrung verkaufen und andere dabei unterstützen, gewisse Fertigkeiten zu lernen, eigene Lösungen zu finden und sich weiterzuentwickeln, sind wir auch Coaches. Auch wenn wir uns selbst nicht als Coach sehen und uns nicht so bezeichnen würden. Wir sind dann vielleicht ein Business-Coach, Instagram-Coach, Life-Coach, Ernährungs-Coach oder, in meinem Fall, Blog-Coach. Es gibt so unglaublich viele Experten, Berater, Lehrer, Therapeuten, Trainer, Weise und Mentoren, die auch Coaches sind. Das bedeutet: die Welt ist voller Coaches – und war das immer schon! Klar, wir könnten jetzt versuchen, das Wort „Coach“ genau zu definieren und dann eine Abgrenzung zu den Mentoren, Trainern und Beratern ziehen, aber letztendlich sind die Übergänge fließend. Es gibt in Deutschland viel mehr Coaches, als die (je nach Quelle) 9.000 bis 30.000, die sich offiziell Coach nennen. Aber, so meine Vermutung: Diese vielen tausend Coaches sind in der Gesellschaft nicht gleichmäßig verteilt.
Die 4 Zutaten von „alle werden Coach!“
Es gibt 4 Faktoren, die dazu beitragen, dass du das Gefühl hast, von Coaches umgeben zu sein:
Deine Privilegien
Dass du das Gefühl hast, dass Viele um dich herum Coaches werden, zeigt, dass du privilegiert bist. Es zeigt, dass du zur Mittelschicht gehörst und mit hoher Wahrscheinlich eine gute Ausbildung (Studium?) absolviert hast. Es zeigt, dass du relativ wenige Menschen der „Arbeiterklasse“ in deinem Umfeld hast.
Deine Filterblase
Wenn du auf Facebook und Instagram von den vielen Coaches und Werbeanzeigen genervt bist, könnte das an deinem Surf-Verhalten, bzw. an deiner digitalen Filterblase liegen. Denn Instagram und Facebook zeigen dir Inhalte an, von denen der Algorithmus ausgeht, dass er dich interessieren könnte. Dein Feed ist Abbild deiner eigenen Likes, Favoriten und der Postings bzw. Themen, an denen du hängen bleibst und mit denen du dich intensiv beschäftigst. Du suchst dir also selbst das digitale Umfeld, das dich dann umgibt, wie ein dicker, schwerer Mantel. Wenn du dich mit klassischen Coaching-Themen beschäftigst, wie z. B. Neuorientierung oder persönlicher Weiterentwicklung, kann für dich beim Scrollen durch Instagram schnell der Eindruck entstehen, dass diese Themen allgegenwärtig sind. Aber nein, sie sind einfach nur auf dich zugeschnitten! Du bist dann nämlich das Ziel des sogenannten Retargetings geworden: Du wirst auf Schritt und Tritt mit Werbung zugeballert, zu Themen, mit denen du dich vorher beschäftigt hast. Gut zu wissen: Du kannst deine Filterblase und das Retargeting dadurch beeinflussen, welchen Leuten du (ent)folgst, welche Inhalte du likest und welche Webseiten du besuchst.
Deine selektive Wahrnehmung
Eine große Rolle beim Gefühl, dass plötzlich alle Coaches werden wollen, ist unsere selektive Wahrnehmung. Wenn wir plötzlich in die Coaching-Blase purzeln, sind wir umgeben von Leuten, die sich auf den gleichen Weg begeben, wie wir selbst. Aber gut, als ich angefangen habe, BWL zu studieren, hatte ich auf einmal auch zig BWLer in meinem Freundeskreis. Man munkelt, das sei bei jedem Studium bzw. bei jeder Ausbildung ähnlich 😄 Und Leute, die das gleiche Thema haben, reden dann über die gleichen Dinge. Du musst selbst noch nicht mal das Ziel haben, ein Coach zu werden, um diese selektive Wahrnehmung zu erleben. Es reicht, wenn du dich auf einen Weg der Neuorientierung bzw. der persönlichen Weiterentwicklung begibst. Denn dort sind sehr viele Coaches unterwegs.
Alle in deinem Umfeld werden Coach? Willkommen in deinen 40ern 😄
Wir wachsen in relativ starren Alters-Kohorten auf. Das fängt schon in der Schule an, in der alle in einer Klasse max. 12 Monate auseinander geboren wurden (ok, ausgenommen die paar Sitzenbleiber. Die erschienen uns früher oft wie Giganten aus einer anderen Sphäre, weil sie so alt waren). Später in der Ausbildung oder im Studium sind wir wieder von Gleichaltrigen umgeben, diesmal variiert das Alter so etwa 3 Jahre. Und so durchwandern wir in unserem Leben mit unserer Alterskohorte auch die Themen, die unser Lebensalter widerspiegeln: Nach der Ausbildung geht es darum, erste Berufserfahrung zu sammeln. Dann gründen auf einmal alle eine Familie (oder auch nicht – was dann natürlich auch zum Thema wird). Dann bauen alle ein Haus! Vor, während und nach dem Hausbau und der Familiengründung ist das dominierende Thema die Karriere und der Kredit. Und dann, so mit ca. 40 Jahren, kommen die Lebenskrisen: Arbeitslosigkeit, berufliches Scheitern, Scheidung, die Mütterfalle, Midlife-Crisis, flügge werdende Kinder, sterbende Eltern, Krankheit, die ersten grauen Haare und bei Frauen die Vorläufer der Menopause. Dadurch, dass wir als relativ starre Alters-Kohorten durch das Leben wandern, sind wir alle von diesen Krisen umgeben, auch wenn sie uns selbst nicht (negativ) betreffen sollten. In diesen Krisen sprießt der Samen vieler Coaching-Lebenswege! Denn: Viele nutzen diese Krisen, um sich im Leben neu zu orientieren und sammeln durch das Überwinden der Krisen sehr viel Erfahrung.
Und so kommen wir als Alterskohorte mit ca. 40 also in ein Alter, in dem wir sehr viel Lebenserfahrung und Wissen angesammelt haben und in dem wir krisen-gestählt sind. Ab diesem Alter bietet es sich an, unser Wissen zu verkaufen – was jetzt dank Internet so einfach ist, wie noch nie! Viele orientieren sich zwischen 40 oder 50 im Leben neu, erkennen, wie wertvoll ihre Lebenserfahrung ist und bieten das dann als Produkt an. Und andersherum: Je älter wir werden, umso mehr tendieren wir auch dazu, Hilfe anzunehmen, um die Dinge zu ändern. Viele haben ab ca. 40 einen Life-Coach oder z. B. Ernährungs-Coach. Denn wir merken: wir haben nicht ewig Zeit. Zudem haben wir ab einem gewissen Alter meistens auch mehr Geld zur Verfügung und können uns dann Coaches leisten. Und ZACK, ist unser Freundes- und Bekanntenkreis voller Coaches und voller Leute, die gecoacht werden!
Nicht jeder Coach ist Vollzeit-Coach!
„Coach“ ist kein geschützter Titel, es kann sich also theoretischer jeder Coach nennen. Nur: Ob er dann auch gute Arbeit leistet und vom Coachen leben kann, ist eine ganz andere Frage. Im Gesamtdurchschnitt haben Coaching-Anbieter nach Rauen (2020) ein Bruttojahreseinkommen von 105.261 Euro. Der Anteil, den das Coaching hieran hat, liegt bei 37,20 Prozent. Damit wird deutlich: Coaching ist zumeist ein Teilgeschäft der Anbieter. Viele Coaches sind also hauptberuflich Steuerberater, Unternehmerin, Gesangslehrerin, in der Personalabteilung angestellt oder z. B. Texterin, so wie ich noch bis 2020, als ich meinem letzten Freelancing-Kunden gekündigt habe. Also: Ein Großteil der Coaches kann nicht vom Coaching leben und hat einen „Brotjob“ – womit diese Coaches nach der Definition mancher Menschen etwas „Sinnvolles“ machen 😄 Und wenn du deiner bester Freundin bei einem Glas Rotwein zuhörst, während sie dir von ihrer gescheiterten Beziehung erzählt und du mit ihr über die Ursachen philosophierst und ihr Ratschläge gibst, bist du in dem Moment auch ein Coach. Und wer, bitteschön, hat das bisher noch nie gemacht? In gewissen Momenten unseres Lebens sind wir alle Coaches und Gecoachte ❤️
Auch gut zu wissen (und zu bedenken): in Österreich ist die Berufsbezeichnung „Coach“ ein *geschütztes Gewerbe“ – und mit einer recht intensiven Ausbildung verbunden (offziell: „Lebens- und Sozialberater“). Diese beinhaltet auch sehr viel Selbst- und Gruppenerfahrung.
Ja, die Filterblase kenne ich auch nur zu gut 😅 Habe angefangen, die Werbenanzeigen, bewusst auszublenden und als irrelevant zu markieren. So sehe ich immer mal wieder etwas neues 😜
Oh ja wie war.
Beim letzten Wort musste ich zweimal lesen. Habe zuerst Geocaching gelesen. :-D
Jetzt, wo du es sagst, Alex 😄 Thematisch würde ja beides bei mir passen ;-)
Sehr schön auseinandergedröselt! Ich finde, wir vergessen oft, dass wir in unserer eigenen Bubble stecken. Mir ist das zum Beispiel mal aufgefallen, als ich ein bisschen bei YouTube rumsurfen wollte und nicht eingeloggt war. Ich war total schockiert, wie viel oberflächlicher Schrott da im Umlauf ist. Das war mir bis dato gar nicht aufgefallen, weil ich halt selbst viele coole Kanäle abonniert und dadurch einen spannenden und tollen Feed habe. Nur mal so als Beispiel für unsere manchmal verzerrte Wahrnehmung. 😃
Das ist ein tolles Beispiel, Elise! Eingeloggt vs. ausgeloggt zu sein, ist echt ein Augenöffner. Unsere Filterblase ist echt krass. Einige loggen sich ja nie aus und denken dann, ihre Filterblase sei ein Abbild der Realität. Wenn das so wäre, würde in Deutschland zur Zeit wirklich jeder Onlinebusiness- oder Life-Coach werden und Onlinekurse machen wollen 😄 Denn, klar, das sehe ich ständig auf Facebook. Jede Werbeanzeige in meinem Feed dreht sich um Funnelaufbau, bessere Newsletter schreiben, Expertenbuch schreiben uuuuund so weiter. Als ich einmal von Ausversehen mit einer anderen Seite unterwegs war (bei der Handyapp hat Facebook vor ein paar Wochen einfach random die Profile bzw. Seiten gewechselt), habe ich mich gewundert, warum ich so ganz andere Dinge in meinem Feed sehe, so Outdoor- und Computer-Themen. Stellt sich heraus, dass ich von Ausversehen mit einer Seite eines meiner Teammitglieder in Facebook unterwegs war.