Zur Feier des Tages veröffentliche ich heute einen Newsletter, den ich am 3. Oktober 2020 an meine Liste verschickt habe. Dieser Newsletter zum Tag der Deutschen Einheit ist immer noch aktuell und liegt mir sehr am Herzen. Auf Beitragsbild sind meine stolzen Eltern und ich abgebildet, an meinem ersten Geburtstag, den wir in Baia Mare, Rumänien gefeiert haben. Im Hintergrund ist das Krankenhaus von Baia Mare zu sehen, dort hat meine Mutter als Ärztin gearbeitet.

Eigentlich wollte ich heute um diese Zeit im H&M Kinderhosen und Pullis kaufen. Dann scrolle ich heute früh durch Reddit und finde dieses Posting:

Mir ging es wie dem ersten Kommentator. Nur, dass ich das heute erst erfahren habe.

Was schon sehr viel über den heutigen Feiertag aussagt. Tag der Deutschen Einheit. Hach ja.

Dabei ist es ja nicht so, dass mich dieses Ereignis kaltlässt. Ganz im Gegenteil. Die Wiedervereinigung und all die Ereignisse, die ihr vorausgingen, ist sehr eng mit der Geschichte meiner Familie verwoben. Nur, dass wir nicht aus Ostdeutschland kommen, sondern aus Osteuropa. Genauer: Aus Rumänien.

Die Stichworte meiner Kindheit waren: Pioniere, Ceaușescu und tornázni (ok, das ist ungarisch und bedeutet „Turnen“, meine Hauptbeschäftigung damals als Kind). Wir sangen in der Schule „Roşu, galben şi albastru“, die Nationalhymne war in unserem Lesebuch der 1. Klasse abgedruckt (was mir als Mutter heute auffällt: Meine Kinder kennen die deutsche Nationalhymne nicht). Bei allen Familienfesten haben die Erwachsenen die Telefone und Steckdosen mit Kissen abgedeckt. Anschließend wurden wir Kinder rausgeschickt und meine Eltern, Tanten und Onkel haben dann wichtige Dinge besprochen, von denen meine Brüder und ich nichts wissen durften. Erst später habe ich erfahren, was das mit den Kissen auf den Telefonen auf sich hatte: Bei diesen Gesprächen haben sie ihre Emigration nach Deutschland geplant. Sie haben das fein säuberlich von uns Kindern ferngehalten, damit wir ja nichts ausplappern. Und sie wollten das auch vor der Securitate, der Geheimpolizei, fernhalten. Telefone abhören war nämlich ihre Paradedisziplin. Später, im Geschichtsunterricht, habe ich gelernt, dass angeblich selbst die Russen vor der Rumänischen Securitate Angst hatten. Die Securitate hatte ihre Augen und Ohren überall. Wem konnte man noch vertrauen? Der Familie? Hoffentlich.

Ich erinnere mich daran, dass „Einkaufen“ immer bedeutete, viel Zeit mitbringen zu müssen. Die Schlangen vor den oft leeren Läden waren legendär. Aber ich erinnere mich auch daran, dass wir auf geradezu magische Weise darum herumkamen. Auch hier habe ich erst später erfahren: Die Patienten meiner Mutter, sie war/ist Ärztin, haben ihre Dankbarkeit oft mit Lebensmitteln ausgedrückt. Ein Laib Brot – großartig! Ich war sehr klein damals. Heute kann ich kein Stück Brot wegwerfen, selbst wenn es beginnt, hart zu werden.

Ich erinnere mich an den riesengroßen Plattenbau, in dem wir in Baia Mare gewohnt haben. Er hieß Semi Luna. Wir wohnten links unten, direkt im ersten Wohngeschoss, über den Läden. Was super war, denn dann mussten wir nicht den Aufzug nehmen, der regelmäßig steckenblieb. Ich erinnere mich daran, wie bunt die Welt wurde, wenn die Menschen die Türen öffneten. Draußen war nämlich alles grau, aber in den Häusern und Wohnungen, da gab es Farbe! Und überall waren Stromleitungen. So viele Stromleitungen, die kreuz und quer über den Straßen, von Haus zu Haus verliefen. Auf dem Land haben die Störche das Beste aus dem Stromleitungs-Chaos gemacht und auf den Strommasten gebrütet.

Das, was die Leute heute rückblickend als das brutalste kommunistische Regime des Ostblocks bezeichnen, war meine frühe Kindheit. Und dennoch: Der Feiertag heute fühlt sich dumpf an. Denn das große emotionale Happy End war für uns nicht die Unterzeichnung irgendeines Vertrags im Jahr 1990. Es war der Tag, an dem die Mauer fiel. An diesen Abend erinnere ich mich noch lebhaft: Meine Eltern und ich saßen vor dem Fernseher und wir sahen das Unmögliche: Die Menschen sind über die Mauer geklettert und niemand hat sie aufgehalten! Konnte das sein? Mein Vater hat sofort versucht, Verwandte in Rumänien anzurufen. Aber es ging nicht, die Leitungen waren tot, besetzt, keine Ahnung. Er hat es immer und immer wieder probiert. Und dann, irgendwann spät am Abend, kam er durch! Und wie er durch das Telefon geschrien hat: „Ja! Ja! Es ist wahr!“ Alle waren aufgelöst! Tränen. Unfassbar. Wir wussten: Der Mauerfall würde auch Rumänien erreichen, der eiserne Vorhang würde fallen.

Und das tat er.

Manchmal frage ich mich, ob meine Eltern in Rumänien geblieben wären, wenn sie gewusst hätten, dass sie nur noch 3 Jahre hätten durchhalten müssen. Wir sind am 19. November 1986 nach Deutschland gekommen – damals sah es aus, als ob das Ganze noch 100 Jahre so weitergehen würde.

Aber viel öfter frage ich mich: Warum ist der große deutsche Feiertag der 3. Oktober und nicht der 9. November? Der Tag, an dem die Mauer fiel. Ich weiß um die sehr schwierige Bedeutung des 9. Novembers. Und dennoch … Nein: Gerade deswegen sollte der 9. November ein deutscher Gedenk- und Feiertag werden.

Update vom 3. Oktober 2024: Ich habe Gänsehaut bekommen, als ich mir diesen Newsletter aus dem Jahr 2020 nochmal durchgelesen habe: Wie unterschiedlich die Kindheit meiner Kinder von meiner eigenen ist. In meinem letzten Jahresrückblick habe ich über den Sozialismus in meinem Kopf geschrieben. Meine ersten 6 Lebensjahre in Rumänien prägen mich immer noch – und werden es mein ganzes Leben lang weiterhin tun. Bei meiner Geburt im Jahr 1980 hätte niemand vermutet, dass aus mir mal eine deutschsprachige Bloggerin und Unternehmerin werden würde. Meine Eltern haben mit Anfang/Mitte 40 alles zurückgelassen, ihre Familie, ihre Jobs, ihre Sprache, ihre Kultur, um mir und meinen zwei Brüdern ein besseres Leben zu ermöglichen. Heute bin ich so alt, wie meine Eltern damals. Ich habe auch eine Tochter und zwei Söhne, genau wie meine Eltern. Wäre ich heute auch so mutig, wie meine Eltern damals?